Maschinen

Hinter mir schließe ich die schwere Eichentür. Mit einem dumpfen Klacken fällt sie in ihre Zarge und mit meinem Atem verspüre ich den Dunst von Reinigungsmitteln im Flur des mehrstöckigen Hauses. Die Tür gegenüber nur leicht angelehnt, dahinter leere Räume. Das Haus ist frisch saniert und noch nicht alle künftigen Bewohner haben ihre Wohnungen bezogen. Beim Gedanken an meine neuen Nachbarn wird mir unmutig, zu viele Menschen in diesen Straßen, denen ich nicht traue. Draußen gehe ich den Steig hinab und mache mir Gedanken über eine Software, die ich schreibe.

Die Idee für das Programm war heute morgen entstanden, während ich auf meine Kaffeemaschine wartete: Ich hatte eine Bildersammlung auf einer Internetseite angelegt, aber es gab dort keine Möglichkeit, die Sammlung als Ganzes wieder herunterzuladen. Das Programm wird die Struktur der Webseite erfassen, um dann alle Bilder in einem gewünschten Teilbereich der Galerie auf meine Maschine zu übertragen. Im Kopf gehe ich jeden Teil der Routine durch, für jeden notwendigen Arbeitsschritt muss ich schon im Voraus jede Variation erfassen, der das Programm entsprechen können muss. Was passiert, wenn ich es auffordere, einen Bereich der Galerie zu laden, den es gar nicht gibt? Was passiert, wenn ein Bereich von einem Dritten gelöscht wird, während mein SchatzProgramm noch daran arbeitet? Die Rillen zwischen den Gehwegplatten ziehen unter meinen Füßen hinweg, wie Wege zwischen Feldern unter einem Linienflugzeug. Ich fühlte mich riesengroß erhaben über dem Bordstein. Sollte ich beim Programmieren eine Möglichkeit vergessen, die dann aber doch eintritt, würde das Programm sich unvorhersehbar verhalten. Nur im besten Fall hat dies einen Abbruch auf einer Metaebene des Maschinencodes zur Folge: Die Software stürzt ab, man ärgert sich, und startet sie wieder neu.

Meine Füße legen sich zwischen die dunklen, von zerknitterten Grashalmen bewachsenen Plattenrillen, jetzt bedacht, die Grenzbereiche ja nicht zu berühren. Die Sonne kneift meine Augen zusammen, ein Kinderwagen rollt leise vor seiner Mutter an mir vorbei. Viel schlimmer wäre es, wenn das Programm trotz des Fehlers einfach weiterläuft, als wäre nichts geschehen. Denn dann befindet sich ein Spalt, ein Riss zwischen der wahren Realität, und derjenigen im Inneren des Computers. Eine womöglich winzig kleine Differenz, mal fatal, doch unter anderen Umständen vollkommen konzequenzfrei. Die Maschine arbeitet einfach weiter, ignoriert die Lücke. Ohne mein Bedenken ist sie blind für seine Existenz. Und doch liegt er verborgen, in einem Spannungsfeld der Speicher, im Inneren der glatten Tafel zwischen meinen Händen und wartet darauf, dass seine Information für eine der Milliarden Berechnungen benötigt wird, welche dort in jeder Sekunde angefertigt werden. Neben einem Baum am Wegrand haben Wurzeln die einst ebenen Steine grotesk auseinandergerissen. Das Holz des Baumes wächst kräftig aus der dunklen Erde empor und zerbricht damit das sorfältig gelegte Plattenmuster. Mein inneres Flugzeug gleitet über die bergigen Wurzelzüge zu den nächsten Feldern und Wegen hinüber.

Die Sonne bringt zwischen den kargen Wintersträuchern parkende Autos zum Leuchten, ihre Konturen winden sich die Straße hinab. Am Ende des Weges biegt ein gelber Kastenwagen knirschend um eine Straßenecke. Im Laderaum des Postautos dutzende von Warensendungen aus den Speichern im Umland der Stadt. Immer wieder erfasst mich eine Neugier beim Anblick der braunen Papphüllen, in denen unerkannte Wünsche darauf lauern, von ihrem zukünftigen Besitzer gehalten zu werden. Ihr weiter Weg führt durch viele Hände aus den entlegensten Orten der Welt in diese meine Nachbarschaft, und doch gibt es keinen einzigen Menschen, dem diese Reise vor Augen liegt. Jedem Beteiligten ist nur ein winziger Teil der langen Kette von Arbeiten bekannt, welche in Plastik verpackte Waren aus dem Nährboden der Mutter Erde zieht. Nur in solcher Produktion ist es dem Menschen heute möglich, die Millionen an Dingen hervorzubringen, die in den Regalen der Märkte auf ihn warten. Kein Mensch alleine könnte ein modernes Auto bauen. Keine Seele allein trägt das Wissen in sich, welches Straßenzüge nach Sonnenuntergang bezaubernd zum Funkeln bringen.

Und so kennt auch kein Programmierer jeden Weg, den die Wirklichkeit für sein Programm vorsieht. Zu verflochten, zu komplex sind die Stränge der Welt, als dass ein einzelner Mensch ihnen Herr werden könnte. Er wird sich irren, so dass ein wichtiges Detail seinem Blick entgeht. In seiner Ausbildung wurde er mit unzähligen Rätseln auf diese Aufgabe vorbereitet. Jedem von Ihnen sind Elemente einer lähmenden Qualität gegeben, welche den Geist einzuschläfern in der Lage sind. Monotone, sich wiederholende Muster und Anweisungen versuchen, den Schüler abzulenken, so dass die Lösung des Rätsels seinem Sinn verborgen bleibt. Und doch findet er wieder und wieder eine Struktur für die gegebenen Informationen, in welcher eine Antwort entsteht. Manchen entsteht ein Gefallen an dem süßen Prickeln, welches aus schier unlösbaren Problemen erwächst, wenn die Formen in ihrer Logik sichtbar werden. Wie ein Rausch erfüllen Zahlen und Strukturen seine Gedanken, und lassen ihn komplexe Probleme in Algorithmen kürzer als ein Gedicht erfassen.

Zu anderen Zeiten ergibt er sich hoffnungslos den einsamen Weiten dieser Irrwege, er ist ermüdet und versteht nicht, wie so abartig weltfremde Rätsel ihm etwas über die Konstruktion der Maschinen lehren sollen, nach denen unsere Art zu Leben doch so fordernd verlangt. Es sträubt ihn vor der Abstraktheit des Programms, vor der Weise, mit der es jeden Augenblick der Wirklichkeit von seiner Vieldeutigkeit häutet, alles Sinnliche von seinen Rippen reißt und den nackten Knochen der Struktur des Lebens in Gefüge zwängt, ihn zu vermessen, nachzubilden, zu vermehren. Es ist ein Ekel der den Schüler überkommt, durch die Leblosigkeit, in die seine Empfindungen gezwungen werden, um den Weg des Geräts zu verstehen.

Das Wesen der wichtigsten Erfindung der Menschheit bleibt ihm dann verborgen. Denn hinter elektrischen Signalen und höheren Computersprachen liegt nicht nur die gesammelte Erfahrung des Menschen zur Konstruktion höherer Maschinen — hier verborgen liegt eine mehr und mehr vollkommene Beschreibung unserer Realität. Jede Straße, jeden Namen, jedes Gesicht und jeden Gedanken, jeden Glauben, alles Wissen, alle Wahrheit kann ein geübter Blick aus diesem Werk entnehmen. Nur ein winziger Teil der Menschen kann in der Lage sein, die Konsequenzen dieser Situation zu erfassen. Nur ihnen erscheint der Computer nicht mehr als Maschine, sondern als Zement, aus dem die Struktur der Welt nun wachsen wird.

Das Postauto fährt an mir vorbei, ein zügig arbeitender Mann, Schnurrbart und gelbe Arbeitskleidung hinterm Steuer. Sein suchender Blick findet die Zahl an der Wand, welche ihm das Gerät in seinen Händen diktiert. Ohne den Wind zu lesen, ohne einer Fährte zu folgen betritt er ein Haus und seine Hände verlassen gut verpackte elektronische Bauteile im Wert von Hunderten Euro. Und doch ist diese Transaktion schon Sekunden darauf in seinen Erinnerungen verblasst. Kein Zweifel plagt ihn ob der rechtmäßigen Zustellung, dann seine Anweisungen sind so klar, wie die eines Programms: Eine Nummer, eine Name, eine Unterschrift und fort.

Ich erreiche wieder meine Wohnungstür, zusammen mit dem bärtigen Briefträger betrete ich den Flur. Schweigend steigen wir die Stufen in den zweiten Stock. Erst hier, im Quadrat zwischen meiner und meines zukünftigen Nachbars Wohnungstür, scheint er mein Dasein zu erkennen. Mit einem fordernden Blick in seinen Augen verlangt er eine Unterschrift. Ich suche seinen Blick und sein Verstehen, da ich ja nicht der Nachbar bin, doch schon scheint er abzuschweifen in Gedanken, sein Blick fällt durch ein Fenster auf die Sonne, welche hinter ein Haus, dem Feierabend entgegen fällt. Sein Griff hält noch den dunklen Kasten, welcher mit einem grünen Blinken eine Unterschrift erwartet. Ohne zu Zweifeln lege ich den Stift zwischen meine Finger und lasse sie die Kurven und Linien ziehen, welche dann ein kleines Päckchen, geschlagen in braunes Papier, in meine Hände fallen lassen. Die schwere Eichentür des rechtmäßigen Besitzers liegt einen Spalt geöffnet hinter mir, als ich reicher als zuvor mein eignes Heim betrete.