dunkleblitze
An den Tagen, an denen wir beisammen waren, gab es keinen Schimmer von Dunkel am Himmel. Wir würden uns am späten Nachmittag treffen, so spät, dass wir keinen Kaffee mehr trinken konnten, aber so früh, dass wir uns noch nicht nach dem Abendbrot sehnten. Meistens waren wir zu viert oder zu fünft. Es gab keinen harten Kern, jeder der einmal bei uns war, würde ein andermal fragen, was er verpasst hatte. Und es war immer vom Gleichen: Wir kochten ein einfaches Essen, so wie Nektarinen auf Toast, im Ofen mit Ziegenkäse überbacken. Mit Thymian und einem Tropfen Rosenöl, auch wenn eins der Mädchen es nicht mochte und ihre rotblonden Brauen verzog. Auch wenn irgendwer ihr dann einen Spritzer davon auf ihren Nacken geben würde und sie ihn zweimal um das Rund aus Küche, Flur und Wohnzimmer jagen würde. Es würde doch darin enden, dass ein Kissen von der Couch fliegt und mit einem weichen poof eine Schlacht aus Fadenbommeln, Zierfalten und Federdecken entzündet. Die Musik würde spielen und wir würden tanzen, so wie ein Tropfen Wasser auf einer glühenden Herdplatte. Wir tanzten aus einem tiefen Wohlsam heraus in unsere runden Bäuche hinein, so dass sie unsere Beine über Omas Wohnzimmerteppich hüpfen ließen. Es brauchte keinen Witz um zu Lachen, alles um uns, die ganze Welt war Lachen, denn wir liebten uns.
An anderen Tagen errichteten wir kleine Zelte aus Papiertüchern in einem Cafe, dann suchten wir uns einen Baum in den Wiesen, auf den wir klettern konnten. Oben ließen wir dann Papierflieger aus seiner Krone steigen. Wir kannten uns so gut in den Wäldern aus, dass wir von überall in nur 20 Minuten zum Pier am Hafen kommen konnten. Ich war der beste darin, ich wartete immer auf die anderen, während sie die lange Straße aus der Ortschaft hinab liefen.
Aber heute kamen sie nicht. Von einer Mauer entlang des Parkplatzes konnte ich fast auf die kahlen Wiesen oben am Steilhang blicken. Der kühle Wind ließ die Blätter an den wenigen Bäumen hell und dunkel blinken. Sie hätten schon vor einer Viertelstunde hier sein müssen. Ich sprang von der Mauer hinab und knickte mir dabei meinen Fuß etwas. Meine Stirn in Falten, humpelte ich über den Platz, wo mein Fahrrad angeschlossen war. Die grantige Straße flog unter den Rädern hinweg, und vom Fahrtwind legte sich ein hohes Pfeifen über meine Ohren. Ich ahnte bereits was passiert war, als die großen Kirschbäume hinter der Felswand auftauchten und ich ein dunkles Blitzen zwischen ihnen aufflackern sah. Ich wollte durch die Gärten laufen, aber mit dem Fahrrad musste ich den langen Weg bis zum Ende der Straße nehmen. Es war kein Mensch zu sehen. Erst, als ich auf der Rückseite der Häuser schon den halben Weg zurück erklimmt hatte, spürte ich die Leere in meinen Ohren, wo Pfeifen hätte sein sollen. Es war keine Leere, die dem Verschwinden folgt, es war ein Sinn von Abwesenheit für alle Zeiten. Nie hatte ich jemals auch nur einen Laut vernommen. Ich sprang von meinem Fahrrad und stieß einen wütenden Schrei hervor. Aber auch, wenn ich den Druck der Luft auf meinen Lungen so fest spürte wie sonst, entstand nicht einmal der Schatten des reißenden Lauts, den ich hatte von mir geben wollen.
Jetzt war es Gewissheit, es war wie mit bleichen Lettern in die Luft geschrieben: Ich war wieder allein, kein Menschen mehr mit mir in dieser Welt. Nur würde es nicht lange so friedlich bleiben. Ich riss mein Fahrrad vom Asphalt los und warf mich in den Wind, ich musste so schnell es ging nach Hause kommen. Ich wusste nicht genau, was es dieses Mal verursacht hatte. Zuvor gab es immer einen Auslöser. Eine falsche Entscheidung, ein unauffälliges Missgeschick. Fehler, die ich mir nie verzeihen konnte. Denn auch wenn es nie lang gedauert hatte, zumeist nur wenige Tage, war es immer eine schreckliche Strafe, diese Zeit in vollem Bewusstsein aufnehmen zu müssen.
In meiner Wohnung angekommen, lief ich in den Keller hinab und begann das Gerümpel beiseite zu schieben, und durch große Haufen von Dingen zu wühlen, die ich längst hätte wegschmeißen sollen. Ich konnte nur hoffen, dass sie alle noch da waren. Meine Nase juckte schon von dem vielen Staub, und ich musste fast niesen, als ich die Kiste schließlich im Wohnzimmer auf den Boden fallen ließ. Das Schloss war schon angelaufen, mit etwas Öl ließ es sich aber leicht öffnen. Im Inneren strahlten mir zwei Stapel leinener Einbände entgegen. Zuoberst ein grüner und ein brauner. Ich nahm die beiden Bände, und begann die Seiten durchzublättern. Auf das dünne Trennpapier waren Muster gedruckt, ein Spinnennetz oder ein Tartan.
Jedes Bild einer weiblichen Person landete auf einem Stapel und jedes Bild einer männlichen Person auf einem anderen. Ich ging einige Bände durch, vielleicht fünf oder sechs, bis ich schließlich einen großen Haufen dieser alten Photographien vor mir liegen hatte. Zunächst waren die Männer dran. Ich schob vorsichtig die Gardinen auf, äußerst bedacht darauf keine hektischen Bewegungen zu machen. Mit je zwei kleinen Streifen Tesafilm befestigte ich die Bilder gleichmäßig verteilt an den langen Fenster des Hauses. Sie würden mir wieder helfen müssen, mein eigenes Blut, gebrannt auf einen Film, um eine Erinnerung am Leben zu halten. Mit jedem Bild das ich aufhing, sprach ich laut den Namen der abgebildeten Person aus und ließ dann ihr Antlitz dem Dunkel vor den Fenstern entgegenstarren. Ich konnte nur ein fernes tiefes Blitzen ausmachen, wenn ich selbst meinen Blick auf die Glasscheiben richtete. Selbst der Rasen hinter dem Haus schien nach wenigen Metern von einer grauen Wand verschluckt zu werden. Es war kein Nebel, man konnte es nicht mit einer Wand aufhalten. Das Nichts strömte aus der Ferne, aus den Blitzen auf mich hinab.
Ich hatte bereits das Sofa in die Küche geschoben, und alle Kissen und Decken zu einem großen Haufen auf Omas Teppich ausgebreitet. Ich setzte ich mich nun in die Mitte dieses Aufbaus und legte die Bilder der Frauen um mich herum, wieder mit jedem ihrer Namen auf meinen Lippen. Als auch dieser Kreis geschlossen war, sah ich mit Entsetzen, dass das Nichts schon einen Teil des Hauses erfasst hatte. Es gab eine Zeit wo es noch mehr von den Bildern an den Fenstern beeindruckt gewesen zu sein schien. Meine Hände begannen zu zittern, als ich zum dritten Stapel an Bildern gelangte. Es waren sechs Bilder, meine Freunde. Ich nahm jedes einzelne einmal in meine schwitzenden Hände und zündete sie endlich an.
Hinter meinen Augenlidern war es fast kühl, als das Haus verbrannte. Nur ein scharfes Ziehen spürte ich, als die Flammen an meiner Haut leckten. Zugleich legte sich eine Ruhe über meinen Geist, eine Welle von Nebel spülte durch meine Gedanken. Doch sie floss langsam aus den brüchigen Kanten und Rillen meiner Fantasie heraus, durch unzählige Löcher und Spuren zu Grunde strebend, bis der cremig-weiße Ton meines Geistes wieder zu Tage gelegt war. Ich schlug meine Augen auf und fand mich in weiße Decken gehüllt. Ein gleißendes Licht ließ mich die Lider gleich wieder zusammenschlagen. Ich hörte Stimmen, meinen Namen. Eine zarte Hand in meiner, so vertraut wie das dunkle Blitzen am Himmel. Eine Hand die ich noch nie verspürt, ein Geruch den ich noch nie vernommen hatte. Als ich ihre Nase an meiner Wange spürte, reißt sich ein Schauer an meinem Rücken entlang, tief lief Luft in meine Brust. Meine Augen fielen auf und ließen meinen Blick auf die Welt fallen, kein Dunkel am Himmel, so weit wie breit.
Ich trat aus der Tür in eine warme Luft. Die Welt sah etwas kleiner aus, als ich den Bürgersteig entlangging. Am Straßenrand waren Bäume gepflanzt, deren Umgebung mit Grün und Blüten gefüllt war. Unter meinen Schuhsohlen knirschte etwas Sand auf den steinern Wegplatten, und die Häuser zogen an mir vorbei. Eine Frau mittleren Alters kam mir entgegen. Sie trug einen Korb mit einer Flasche Rotwein und einem aus weißem Papier gefalteten Drachen. In einem Moment blickte sie mich an, dann war sie schon vorüber. Mein Blick fällt auf die Häuserwand zu meiner Rechten. Aus einer Glasfassade blickt mir ein Mann entgegen, erst ungläublig, dann mit einem verschmitzten Lächeln, und mein Spiegelbild fragte mich was ich tun würde, mit dem Rest dieses neuen Lebens.